Wir saßen daheim in gemütlicher Runde auf der Terrasse zusammen, als wir vom Tod einer Verwandten erfuhren. Tante Lisbeth war mir eher unsympathisch, und so reagierte ich unbedacht mit den Worten: „Da werden nicht viele Menschen traurig sein!“
Meine Mutter schwieg, doch ihren Gesichtszügen konnte ich entnehmen, dass sie meinen Kommentar unangebracht fand. Als wir allein waren, kam sie auf meine Äußerung zurück und erklärte: „Wahrscheinlich hast du recht. Viele werden nicht um sie weinen. Trotzdem glaube ich, dass Gottes Urteil über sie anders ausfällt, als wir uns das vorstellen können.“
Ich musste nach Luft schnappen und tat lautstark meinen Unmut kund: „Ich verstehe dich nicht. Sie hat getrunken und das nicht wenig. Ihre Alkoholabhängigkeit hat sie stark verändert. Im Rauschzustand hatte sie sich nicht mehr unter Kontrolle. Immer wieder gab es neue Hiobs-botschaften. Zugegeben, ich war nicht immer dabei. Aber mal ehrlich: Es war nicht nur Tratsch.
Mal verwüstete sie ihre Wohnung, mal ließ sie die Schulsachen ihrer Kinder verschwinden, mal griff sie Menschen an. Wie häufig trugen ihre Kinder Blessuren am ganzen Körper. Selbst vor Nachbarn oder Verwandten machte sie keinen Halt. Auch ich habe meine Erfahrungen mit ihr gemacht. Sie fuhr Auto, obwohl sie schon lange keinen Führerschein mehr hatte. Viele von uns machten einen weiten Bogen um sie.“
„Glaubst du, ich weiß das nicht?“, fiel meine Mutter mir in‘s Wort. „Und?!“, gab ich zurück, „Glaubst du, Gott verurteilt das nicht?“ „Doch!“, konterte meine Mutter, „Nur eben anders, als wir vielleicht erwarten.“
Ich war sprachlos. Meine Mutter erkannte meine Fragezeichen im Gesicht. Sie deutete mir an, mich zu setzen. Sie setzte sich dazu und begann mir zu erklären, wie sie es sah. Ihre Stimme klang ruhig, nicht vorwurfsvoll oder gar anklagend.
„Weißt du“, begann sie, „wir sehen und beurteilen die Ausschnitte aus ihrem Leben, die wir mit ihr erlebt haben. Aber wer von uns fragt sich, warum sie so war, wie sie war? Wer hat dazu beigetragen, dass sie so wurde? Warum musste sie mit dem Alkoholrausch ihre Sinne vernebeln? Was war für sie so schlimm? Wer hat sie so verletzt, so unsicher gemacht, so unfähig? Warum hat man ihr nicht geholfen, als noch Zeit dazu war? Ich weiß nicht, wie ihre Kindheit war, wie ihre Eltern mit ihr umgegangen sind. Hat sie je Liebe und Fürsorge erfahren dürfen? Wenn nicht, wie sollte sie es wissen?“
„Ja!“, unterbrach ich meine Mutter, „Da gebe ich dir ja recht. Doch wir Menschen werden älter, machen – von unseren Eltern unabhängig – unsere eigenen Erfahrungen. Hatte sie da nicht auch die Möglichkeit, in ihr Leben einzugreifen, ich meine zu entscheiden, ob sie so weiter machen wollte oder nicht?“
„Vielleicht hat sie das ja versucht, es aber nicht geschafft.“, gab meine Mutter zu bedenken. „Wir wissen es nicht. Gott aber weiß es.“
Ich habe lange gebraucht, um den Sinn ihrer Worte zu verstehen. Gott kennt jeden Menschen in seiner Ganzheit. Er sieht nicht nur die Folgen, die Auswirkungen unserer Entscheidungen, er sieht auch das Entstehen und den Weg. Er kennt all unsere Versuche, unsere Bemühungen. Er kennt unsere Erfolge, aber auch unsere Misserfolge, unsere Fehlschläge. Er kennt unsere innere Zerrissenheit und weiß, wann wir selbst am meisten leiden. Deshalb fällt sein Urteil manchmal anders aus als unser Urteil.
Dieses Gespräch habe ich bis heute nicht vergessen. Wann immer ein Mensch verstirbt, mit dem ich so meine Probleme gehabt habe, muss ich daran denken.
Es hilft mir, nachsichtig zu sein!
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