IV.II.II Schicksalsschläge

Niemand will sie,

und doch geschehen sie,

drücken uns mit einer unbeschreiblichen Wucht auf den Boden.

Es kann jeden treffen,

unabhängig vom Alter:

Sie wirken umso schlimmer,

je jünger die Betroffenen sind,

je näher sie uns stehen.

Schicksalsschläge haben verschiedene Gesichter:

ein grausamer Unfall,

eine schlimme Krankheit oder

ein Suizid.

Sie geschehen völlig unvorhersehbar,

unvorbereitet,

oder

schleichend,

ahnend, dass etwas Drohendes kommt.

In all diesen Situationen stirbt die Hoffnung zuletzt:

„Bitte, bitte! Lass alles gut ausgehen,

das Endgültige oder ganz Schlimme nicht eintreten.“

Manchmal werden wir mit der brutalen

Nachricht an der Haustür konfrontiert;

manchmal am Telefon,

manchmal sind wir Beteiligte oder Helfer mitten im Geschehen.

Der Moment, der Augenblick ist nie richtig.

Wie wir uns in solchen Situationen verhalten,

weiß niemand im Voraus,

ist nicht planbar.

Manche Menschen handeln klar strukturiert,

brechen danach zusammen,

brauchen seelischen Beistand,

andere stehen wie gelähmt da,

möchten helfen, können es aber nicht.

Unser Verhalten in diesem Moment 

ist weder richtig noch falsch.

Manchmal benötigen selbst professionell Arbeitende

wie Sanitäter, Ärzte, Feuerwehrleute oder die Polizei

seelischen Beistand.

Wie hilflos fühlen wir uns in solchen Momenten?

Wir sehen es kommen,

und können doch nichts tun,

und das,

was niemand will,

geschieht.

Erst viel später

setzen sich die Sequenzen

wie ein Puzzel

– aus vielen Teilen bestehend –

zu einem Bild zusammen,

zuerst unscharf,

aber mit zunehmender Zeit klarer werdend.

Wie lange wir dafür brauchen werden?

Nicht abzusehen!                

In diesem Moment aber

scheint die Welt stehen zu bleiben,

alles andere ist unwichtig,

so weit weg,

alles dreht sich um das hier und jetzt.

Alles in uns tut weh,

das Herz schlägt uns bis zum Hals,

der Brustkorb schmerzt,

der Magen rumort.

Unser Blick ist auf das Geschehene gerichtet,

unseren Schmerz nehmen wir erst viel später wahr.

Erste Hilfe rollt an.

Blaulicht, Sirenen.

Hoffnung keimt.

Diese Menschen wissen doch,

was zu tun ist.

Alles in uns fleht:

„Bitte, bitte, bitte!“

Hoffen, hoffen auf den erlösenden Satz:

„Alles wird gut!“

Wir ahnen nicht,

wie viele Menschen hier ihre Arbeit tun,

Rettungsdienst, Notarzt,

Feuerwehr, Notfallseelsorger.

Es muss ernst sein.

Wir fühlen Hände,

hören Stimmen,

erfassen das alles aber nicht.

Wir wollen die Realität nicht hören,

nicht sehen,

nicht verstehen.

Ein Hubschrauber

oder gar ein Leichenwagen

lassen das Schlimmste ahnen.

Totenstille herrscht,

Ergriffenheit, Hilflosigkeit.

Das macht auch den Helfern zu schaffen.

Psychologischer Dienst und

Notfallseelsorger werden gebraucht.

Helfer brauchen sie,

wir – die Zurückgebliebenen – brauchen sie.

Wie lange?

Kein Zeitgefühl!

Irgendwann beginnt das Aufräumen,

die ersten Helfer fahren zurück.

Notfallseelsorger,

manchmal auch Rettungsdienstmitarbeiter bleiben,

begleiten uns nach Hause.

Das Zuhause wirkt anders,

wie damit umgehen?

Wie mit der Leere umgehen,

wie mit den Bildern?

In den nächsten Tagen erhalten wir noch Hilfe.

Es ist gut,

wenn Menschen um uns sind,

die genau hinsehen,

genau zuhören,

uns helfen,

im Sinne des Schwerverletzten

oder des Verstorbenen zu handeln.

Die uns begleiten, uns ermutigen,

eine Intensivpflege für den Verletzten oder

die Beisetzung eines lieben Menschen zu organisieren.

Die ersten Tage schleichen dahin,

quälende Leere, innere Leere,

doch am schlimmsten sind die Nächte.

Obwohl wir so müde sind,

fehlt uns die Ruhe.

Da sind die schrecklichen Bilder,

die vielen bohrenden Fragen:

Hätten wir das verhindern können?

Warum musste das passieren?

Wer hat Schuld?

Wie akzeptieren lernen,

dass es nicht um Schuld geht,

dass die Aneinanderreihung

von unglücklichen Ereignissen dazu geführt hat?

Die ständigen Fragen nach dem „Warum?“ bleiben,

sie bohren und pochen in uns,

lassen uns einfach keine Ruhe.

Akzeptieren wir,

dass es nicht um Schuld geht,

gibt es auch niemanden,

auf den wir unsere Wut,

unsere Schuldgefühle projizieren können.

Wohin dann aber mit diesen Gefühlen?

Wie verarbeiten wir diese Tragödie,

diesen Schicksalsschlag?

Nehmen wir psychologische Hilfe in Anspruch,

vertrauen uns fremden Menschen an?

Diese Menschen nehmen uns das Unfassbare nicht ab,

machen das Unfassbare nicht fassbar.

Vielleicht aber können sie uns einen Raum schenken,

um zu zeigen, wie wir uns gerade fühlen,

um über das Erlebte zu sprechen,

auch wenn die Stimme zittert,

die Tränen laufen,

der ganze Körper bebt.

Manchmal macht es auch Sinn,

erst mal zuzuhören,

von Werkzeugen / Möglichkeiten zu hören,

was wir tun können,

wenn die Bilder immer wieder hochkommen,

wenn die Schuldgefühle uns permanent zusetzen,

wenn die Wut immer wieder in uns aufflammt,

wenn die Rastlosigkeit mehr statt weniger wird,

wenn der Lebenswille in’s Wanken gerät,

oder, oder, oder.

Es sind Hilfsangebote,

ersetzen nicht unsere Bereitschaft,

herauszufinden,

welche Werkzeuge für uns geeignet sind

und welche nicht.

Es gibt kein „richtig“ oder „falsch“.

Wir müssen uns verstehen lernen,

herausfinden,

was uns gut tut und was nicht.

Das gelingt nicht allen. Leider!

Manche Menschen möchten darüber reden,

immer und immer wieder,

sie brauchen geduldige Zuhörer.

Andere stürzen sich in Arbeit,

wollen sich ablenken,

etwas anderes hören und sehen,

und wissen doch,

die Bilder, die Gefühle lassen keine Ruhe.

Wieder andere lenken sich ab,

in dem sie malen oder sich alles von der Seele schreiben.

Doch die Realität ist schonungslos.

Nicht alle können sie aushalten,

brechen zusammen,

geben auf!

Wie finden wir unser inneres Gleichgewicht wieder?

Wie können wir lernen,

uns nicht selbst unter Druck zu setzen?

Gutgemeinte Ratschläge helfen,

aber nicht sofort,

vielleicht später.

Wagen wir den Schritt nach draußen?

Suchen wir die Begegnung mit den Menschen

oder haben wir Angst vor deren Blicke,

Angst vor dem, was sie denken könnten,

Angst vor dem, was sie sagen könnten?

Wie sensibel begegnen

uns Verwandte, Freunde, Nachbarn? 

Meiden sie uns

oder sind sie da,

lassen uns Nähe spüren?

Nicht jeder fehlende Kontakt steht für Gleichgültigkeit,

manchmal haben diese Menschen Angst,

wissen nicht, wie sie uns begegnen sollen.

Doch haben wir die Kraft, uns damit auch noch auseinanderzusetzen?

Es wird nie mehr so, wie es vorher war.

Da ist die eine Person,

deren ganzes Leben sich verändert,

ein Leben lang Hilfe braucht

und damit auch das Leben von uns verändert.

Da ist die eine Person,

die fehlt,

die nie mehr zurückkehrt,

die uns etwas von sich zurücklässt,

aber auch etwas von uns mitnimmt.

Ein Schicksalsschlag verändert uns,

hinterlässt Spuren.

Das Geschehene nimmt uns unsere Unbeschwertheit.

Doch wir haben auch in dieser Situation eine Wahl.

Wir können entscheiden:

Suchen wir nur nach den Schuldigen,

fordern Gerechtigkeit, die es einfach nicht gibt,

oder

begreifen wir, dass wir nicht alles steuern können,

nicht alles in unseren Händen halten.

Wir verändern uns,

leben bewusster, intensiver,

lernen zu verstehen,

dass die erlebten Bilder bleiben,

wir aber selbst entscheiden,

ob wir sie 24 Stunden am Tag

oder

wie einen Gast nur begrenzt zulassen.

So verdrängen wir nicht,

lassen uns aber auch nicht zerstören.

So kann Kostbares neu entstehen;

ein unendlich schwerer, aber lohnender Weg!

Lernen wir zu verstehen:

Ein solcher Schicksalsschlag reißt Wunden.

Wunden heilen mit der Zeit.

Doch zurück bleiben Narben,

und auch die müssen gepflegt werden,

damit sie sich nicht immer wieder entzünden

oder gar aufbrechen.

Der Anfang der Verarbeitung beginnt mit dem Annehmen,

dem Akzeptieren.

Die Verarbeitung selbst bleibt ein lebenslanger Prozess.

Nur hat uns niemand darauf vorbereitet,

wie unendlich schwer das ist.


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