IV.II.IV Flucht

Warum sollten die Menschen

aus der Ukraine fliehen?

Das sind doch unsere Volksbrüder,

wehren sie ab.

Verwandte von uns leben dort und

Russen leben unter uns.

An der Grenze zu Russland

brodelt es immer mal wieder,

werden Menschen verletzt oder getötet.

Was sollte jetzt noch hinzukommen?

Krieg?

Nein!!

Das kann nicht sein,

und was nicht sein kann,

wird auch nicht sein!

Für viele Menschen nicht vorstellbar.

Doch die Angst,

die Unsicherheit will nicht weichen.

Ungläubig harren sie aus,

warten und hoffen,

dass es nicht kommt,

das Unfassbare.

Und dann passiert es.

Das Unmögliche geschieht.

Nur wenige Tage nach dem Ende der

Olympischen Spiele in Beijing,

am 24. Februar 2022,

beginnt er: der Angriffskrieg!

Russland marschiert in das Land.

Keine militärische Übung,

nackte Wahrheit,

schonungslos und brutal.

Es braucht Zeit,

bis die Menschen begreifen,

sich aus der Erstarrung lösen.

Doch viel Zeit bleibt ihnen nicht,

denn die rollenden Panzer,

die Bombeneinschläge

sprechen eine deutliche Sprache.

Keller werden zu Schutzräumen.

Decken, Kissen, Kuscheltiere sowie

Lebensmittel werden hineingetragen,

um die Kälte zu mildern,

um ausharren zu können,

um Kindern ein kleines Stück Geborgenheit zu geben. 

Die Keller bieten Schutz,

ersetzten aber nicht das Zuhause.

Die Bombeneinschläge nehmen zu,

treffen nicht nur Industrieanlagen,

Geschäftshäuser oder Banken,

sondern auch Wohnhäuser.

Täglich sterben Menschen,

in den Gebäuden, auf den Straßen.

Sirenen kündigen sie an,

sind Segen und Marter zugleich.

Zum einen

verschaffen sie den Menschen etwas Zeit,

um in die Keller zu flüchten.

Zum anderen

steigt die Sorge,

die Angst der Menschen

vor den Einschlägen der Bomben.

Mit jedem Angriff wächst die Angst der Menschen.

Jedes Mal fragen sie sich:

Haben es alle aus dem Wohnblock

in den Keller geschafft?

Haben es die Kinder

in den Kindergärten,

in den Schulen,

in den Waisenhäusern geschafft?

Was ist mit den Menschen

in den Krankenhäusern,

in den Firmen?

Wo schlagen die Bomben ein?

Wie viel wird vernichtet?

Wie viele Menschen müssen sterben?

Kenne ich sie?

So viele Fragen, so viel Angst!

Von Tag zu Tag wächst die Sorge um die Kinder.

Sie schreien, zittern, suchen nach Halt.

Wenn sie den Keller wieder verlassen,

wissen sie nicht,

wie viele Tote sie sehen werden,

wie viele Gebäude vernichtet worden sind,

welche Bilder sie ihren Kindern zumuten,

zumuten müssen.

Die hautnahe Angst,

die zunehmende Zerstörung,

treibt die Menschen an,

ein paar Habseligkeiten zu packen,

um die Stadt, das Land zu verlassen.

Doch alle Männer bis 60 Jahre,

so fordert es der ukrainische Präsident Wolodymyr Selensky,

sollen für ihr Land – ihre Heimat – kämpfen.

Von Anfang an zeigt sich,

wie entschlossen sie dies tun;

mit an ihrer Seite stehen auch Frauen,

bereit, ihr Land, ihre Demokratie,

ihre Freiheit zu verteidigen.

Die Mütter der Ukraine beginnen,

auf die Schnelle zu packen.

Alles muss in eine Tasche,

in einen Koffer passen.

Liebgewonnenes muss zurückbleiben.

Loslassen muss gelernt werden,

doch jetzt ist nicht die Zeit zum Lernen;

schwer für Kinder,

schwer für Erwachsene.

In einer Hand die Tasche, den Koffer,

an der anderen Hand das Kind, die Kinder.

Abschied nehmen,

ob für eine gewisse Zeit

oder für immer,

weiß niemand.

Sie fliehen aus den Städten,

in denen die Zerstörung,

das Leid unermesslich zunimmt.

Sie fliehen aus Mariupol, aus Charkiw,

aus Irpin, aus Kiew,

aus Lwiw, aus Saporischschja,

aus Butscha, aus Kramatorsk.

Sie fliehen zu Fuß,

in Autokonvois,

in Zügen,

in Bussen und

auch in Krankenwagen.

Wer macht den Anfang?

Wer geht zuerst?

Vielleicht die Menschen,

die Angehörige,

Freunde,

Bekannte im Ausland haben.

Die ein Ziel haben,

wissen, wohin es geht.

Wenn sie ihren Lieben,

ihren Freunden in der Ukraine

vom Ankommen schreiben,

machen sie den

noch Zögernden,

den Ängstlichen Mut.

Der Anfang ist gemacht,

immer mehr Menschen machen sich auf den Weg.

Sie haben nichts mehr zu verlieren,

außer das Leben,

das Leben der Lieben,

das eigene Leben.

Menschentrauben setzen sich in Bewegung,

so ist der Einzelne nicht allein,

das ist gut,

aber auch gefährlich,

denn die Gruppen bilden eine menschliche Angriffsfläche

für den Gegner.

Klar,

jeder ist allein

mit seinen Sorgen und Ängsten,

mit der Ungewissheit,

und

doch ist niemand allein.

Es sind immer Gruppen,

das gibt Mut, Halt und Kraft.

Mit dem Handy sind sie verknüpft.

Schnell erfahren sie,

was daheim passiert,

wen es auf der Flucht erwischt hat.

Manchmal ist für die Flüchtenden

der Tod weit weg,

manchmal aber auch hautnah.

Es trifft eine Mutter, ein Kind!

Schreie des Entsetzens sind zu hören,

nicht zu überhören.

Kinder altern von einem Tag

auf den anderen um Jahre.

Die Unbeschwertheit gibt es nicht mehr,

Kinder erstarren, verstummen.

Leere Blicke, blasse Farbe,

immer auf der Suche

nach einer haltenden Hand.

Wenn ein Kind die Mutter verliert,

können noch so viele Menschen helfen,

das ist gut,

aber sie können die Mutter,

ihre Liebe, ihren Trost, ihre Nähe nicht ersetzen.

Wenn eine Mutter ihr Kind verliert,

können andere ihr nahestehen,

sie mitnehmen,

nicht allein lassen,

aber sie können die Lücke nicht füllen.

Wie gehen die Zurückgebliebenen damit um?

Wut, Verzweiflung, Leere.

Sie lassen sich treiben,

wirken paralysiert,

traumatisiert,

fragen nicht mehr:

Wieso?

Warum?

Weshalb?

Wie viele Wunden entstehen?

Werden sie jemals wieder heilen?

Wie viele Fragen begleiten, zermürben sie?

Werden sie – irgendwann –

wieder in ihr Land zurückkehren dürfen?

Wie wird ihr Zuhause dann aussehen?

Wird der Ehemann,

der Freund,

der Papa noch leben?

Wie wird es sein,

das erste Wiedersehen?

Angst und Hoffnung zugleich!

Viele der Geflüchteten schaffen es,

erreichen die angrenzenden Länder der Ukraine:

Polen, die Slowakei, Ungarn, Rumänien oder die Republik Moldau.

Menschen – ehrenamtliche Helfer –

nehmen sie in Empfang.

Sie reichen ihnen ein Getränk, etwas zu essen.

Für uns nichts Besonderes,

für diese Menschen etwas Köstliches.

Es füllt den Magen,

schenkt neue Hoffnung,

das Gefühl: „Geschafft!“

Wir schauen in ihre Gesichter.

Sie zeugen von Verzweiflung, Erschöpfung, Hunger,

manchmal auch von Wut, Unverständnis, Desorientiertheit.

Hineinschauen in diese Menschen können wir nicht.

Wir wissen nicht, welche Gedanken sie quälen,

was sie lähmt,

was in ihnen brodelt

oder sie innerlich zerstört.

Wir können es nur erahnen,

doch das ist nicht dasselbe.

Die wirklichen Auswirkungen werden sich erst viel später zeigen.

Kinder dürfen sich ein Stofftier nehmen,

kein Ersatz für das zurückgelassene Spielzeug,

aber ein bisschen Hoffnung, ein bisschen Freude.

Sie haben es geschafft, sind auf „sicherem Boden“.

Doch damit ist die Reise für sie noch nicht zu Ende.

Es beginnt die Verteilung der Angekommenen,

denn nicht alle können in Polen und

in den anderen angrenzenden Ländern bleiben,

auch wenn sie es gerne würden.

Diese Länder grenzen an ihr Heimatland,

da ist die Nähe, verbunden mit der Hoffnung,

bald wieder zurückzugehen.

Die Flüchtlingsströme reißen nicht ab.

Europäische Solidarität wächst, anders als 2015.

Länder wie Deutschland, Frankreich und Spanien nehmen Flüchtlinge auf.

Nicht-EU-Länder wie England und die USA schließen sich an.

Die Geflüchteten kommen unter bei Freunden oder Bekannten,

andere bieten leerstehende Wohnungen an,

Hotels stellen Unterbringungsmöglichkeiten zur Verfügung.

Zusätzlich werden Messehalten, Turnhallen, Firmengebäude hergerichtet.

Die Geflüchteten sollen spüren:

Hier wird sich um uns gekümmert,

wir sind nicht allein.

Zu fliehen, ist nicht einfach,

es fordert den Menschen viel ab.

Deshalb versuchen Helfer,

den Angekommenen auf vielen Ebenen zu helfen:

So unterstützen sie bei Behördengängen,

helfen, Sprachbarrieren zu lösen,

helfen bei der Integration in die Gesellschaft,

bei der Unterbringung der Kinder in den Schulen.

So weit wie möglich versuchen Helfer,

den Müttern ein eigenständiges Leben zu ermöglichen.

Wenn sie für ihre Kinder kochen,

ihre Wäsche waschen, ihre Kinder begleiten können,

kehrt für sie ein Stück Normalität zurück.

Es ersetzt nicht das Zuhause,

aber es hilft!

Es hilft auch, mehrere Ukrainer gemeinsam unterzubringen.

Sie können sich in ihrer Heimatsprache unterhalten,

über Erlebtes, über Ängste und Sorgen sprechen.

Für die noch in der Ukraine Lebenden

wird die Flucht immer schwieriger.

Fluchtwege sind zerstört,

Fluchtkonvois werden beschossen,

Wege sind vermint,

sogar Krankentransporte und

Busse mit Kindern werden beschossen.

Nach nur 40 Tagen Krieg sind bereits

sieben Millionen Menschen innerhalb der Ukraine auf der Flucht

und vier Millionen Menschen haben es in andere Länder geschafft.

Den Geflüchteten und

den noch in der Ukraine Lebenden verbindet eins:

die Hoffnung.

Die Hoffnung der Geflüchteten,

dass sie irgendwann in ihr Land zurückkönnen,

die Hoffnung der in der Ukraine Lebenden,

dass sie das Ende dieses grausamen Krieges erleben dürfen.

Wir alle,

die wir in einem friedlichen Land leben dürfen,

hoffen mit all diesen Menschen,

damit sich ihre Hoffnung erfüllt.


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