Ich kannte Josefine – im Dorf von allen Fiene genannt – von klein auf. Sie bewohnte, zusammen mit zwei Geschwistern, das Elternhaus, nahe der Kirche und der Grundschule gelegen. Alle drei waren nicht verheiratet, heute würden wir sagen: Singles.
Fiene pflegte ihre Geschwister bis zu ihrem Tod. Wie Nachbarn erzählten, brauchte sie zuletzt bei der Pflege ihres Bruders Unterstützung. Sie konnte ihn nicht mehr allein waschen und anziehen. Zum einen wog er deutlich mehr als sie, auch wenn er körperlich schon mächtig nachgelassen hatte, zum anderen war Fiene auch nicht mehr die Jüngste. Dankbar nahm sie jede Hilfe an.
Solange es Fiene möglich war, arbeitete sie im „Tante-Emma-Laden“ mit. Wenn ich dort einkaufte, sah ich sie mal beim Putzen von Regalen, mal beim Einräumen von Waren. Wann immer sie mich sah, lächelte sie mich an. Irgendwann fiel mir auf, dass ich sie schon seit längerem nicht mehr gesehen hatte. Sie sei in Rente, erzählte mir die Inhaberin.
Wenn, sah ich Fiene nur noch in der Nähre ihres Hauses sparzieren gehen. Sie wirkte unsicher. Jeder Schritt schien ihr schwer zu fallen. Irgendwann war ihr auch das nicht mehr möglich.
Als ich Mutter wurde, veränderte sich mein Leben. Ich war überglücklich, für das kleine Bündel Leben verantwortlich zu sein. Mein Leben war ausgefüllt, so fühlte ich es. Und genau in dieser Phase meines Lebens begann ich, über Menschen nachzudenken, die allein lebten. Und wer berührte zuerst mein Herz? Fiene! Wie es ihr wohl ging? Mein Gewissen ließ mir keine Ruhe. „Besuch sie mal!“, meldete sich meine innere Stimme. „Willst du Antworten auf deine Fragen, dann geh zu ihr!“
Einige Zeit später schob ich mit dem Kinderwagen und Blumen aus unserem Garten Richtung Fiene. Behaglich fühlte ich mich nicht. Würde sie mich noch kennen? Würde sie mir aufmachen? Was sollte ich tun, würde sie nicht öffnen?
Dann stand ich vor ihrer Tür. Einmal noch tief durchatmen und klingeln. Erst mal passierte nichts, nur mein Herz spürte ich wild pochen. Dann hörte ich, wie der Schlüssel auf der anderen Seite der Tür im Schloss quietschte. Langsam öffnete sich die Tür. Sie schaute mich an und lächelte. Das Eis war gebrochen, meine Angst verflogen. „Komm doch rein“, sagte sie und zog die Tür ganz auf. So passte auch der Kinderwagen gut durch. Sie führte uns in ihre Wohnküche und erzählte: „Das du mich besuchen kommst, das freut mich. Weißt du, so viel Besuch bekomme ich nicht. „Darf ich?“, fragte sie und schaute mich an, während ihre Hand ganz langsam das Kissen im Kinderwagen etwas hochzog. Als ich wahrnahm, wie sehr ihre Hände zitterten, nahm ich das Kissen ganz weg und legte es auf dem Sofa. Fiene hielt ihre Hände vor’s Gesicht und Tränen kullerten. „Ist das schön!“, stammelte sie. Ich wusste nicht so recht, wie ich reagieren sollte. Ich schob den Wagen ganz nah an ihren Stuhl, sodass Fiene im Sitzen den Kleinen betrachten konnte. Fiene war ganz auf den Kleinen fokussiert. Jede Kindsbewegung nahm sie wahr. Mal reichte sie dem Kleinen einen Finger und strahlte, wenn seine kleine Hand den Finger umfasste, mal streichelte sie seine Wangen. Ganz langsam begann sie zu erzählen: „Wie hübsch er angezogen ist. Solche schönen Kindersachen gab es früher nicht“, und mit ihrem Finger strich sie über das aufgestickte Tiermotiv auf dem Strampler. Viele Details nahm sie wahr wie z.B. die Haarfarbe des Kleinen und die Augenfarbe. Irgendwann schaute sie mich erschrocken an. „Entschuldige, ich habe dir noch nichts angeboten. Ich koche uns mal einen Kaffee, ja?“, fragte sie. Ich nickte und ganz vorsichtig stand sie auf, um Wasser in den Behälter der Kaffeemaschine zu gießen, Kaffeepulver in den Filter zu geben und die Kaffeemaschine anzustellen.
Der Kleine begann, herzhaft zu gähnen und seine Bewegungen wurden weniger. Ich schob den Wagen etwas zum Sofa hin, wo auch das Kissen lag. Fiene rückte ihren Stuhl an den Tisch, stellte für uns zwei Kaffeetassen darauf und kramte in dem Schrank oberhalb der Spüle nach einer Schachtel Gebäck. „Fiene, mir reicht eine Tasse Kaffee. Ich habe ja vor einer Stunde erst zu Mittag gegessen“, sagte ich. „Viel habe ich auch nicht da. Weißt du, liebe Nachbarn kaufen manchmal für mich ein, und wenn ich dann für sie einen Einkaufszettel schreibe, vergesse ich doch, dass ein oder andere aufzuschreiben“, entschuldigte sie sich. „Das geht mir schon manchmal so“, sagte ich. Sie schaute mich verblüfft an und beide mussten wir lachen. So war Fiene.
Sie klagte nicht, sondern sprach einfach aus, wie es für sie war. Gemeinsam haben wir noch mehr als eine Stunde am Tisch gesessen, unseren Kaffee getrunken und erzählt. Eigentlich hat Fiene erzählt und ich habe, bis auf wenige Ausnahmen, zugehört. Sie erzählte von den wenigen Menschen, die sie besuchten. Fiene wusste von jedem etwas zu berichten. Daran merkte ich, wie genau sie den Menschen zuhörte, sie beobachtete. Einer von ihnen war Imker. Ab und zu schenkte er ihr ein Glas Honig. „Du glaubst nicht, wie gut der schmeckt,“ schwärmte sie, „und wenn ich mal krank bin, koche ich mir einen Tee und gebe einen Löffel des Honigs hinein.“ Ein anderer brachte stets zwei Gebäckstücke mit. Für Fiene wurde es zu einem liebgewordenen Ritual: Wenn er kam, kochte sie den Kaffee und gemeinsam verbrachten sie etwas Zeit bei Kaffee und Kuchen.
Eine besonders wertvolle Hilfe für Fiene war ihre einzige, noch lebende Schwester Rita. Als Ordensfrau lebte sie in einem Kloster im Paderborner Raum. Wann immer sie ein paar Tage frei bekam, fuhr sie zu Fiene und blieb dort auch. Rita erledigte für Fiene den Großeinkauf, pflegte das kleine Blumenbeet vor Fienes Wohnküchenfenster, putzte die Fenster und die Wohnung und nahm sich täglich Zeit, um mit Fiene zusammen zu sein. Wenn Rita fuhr, wurde es wieder still im Haus. Doch Fiene beschwerte sich nicht, sondern freute sich auf Ritas nächsten Besuch.
Von all dem erzählte mir Fiene so lebhaft, dass ich spürte, wie gut ihr diese Unterbrechungen im Alltag taten. Nach fast zwei Stunden spürte ich: Es ist jetzt an der Zeit zu gehen, sonst wird es für Fiene zu viel. Ich stellte unsere leeren Tassen auf die Spüle und sofort sagte sie: „Das mach‘ ich gleich schon. Ich habe ja Zeit.“ Also deckte ich den Kleinen zu, zog mir meine Jacke an und schob den Kinderwagen nach draußen. Zum Abschluss legte ich meine Hand auf ihre Schultern und versprach: „Ich besuch dich mal wieder. Das ist versprochen!“ Fiene sagte nichts, sondern lächelte. Langsam ging sie in’s Haus zurück, schob die knatschende Tür zu und ich hörte wieder den Schlüssel im Schloss quietschen.
Mein Versprechen einzulösen, fiel mir nicht schwer. Ich musste nicht viel tun, mir nur etwas Zeit freischaufeln. Zugegeben, immer fällt das nicht leicht, doch dafür bekam ich so viel zurück. Wann immer ich vor Fienes Tür stand, hieß sie mich mit einem Lächeln willkommen. Wenn sie wusste, wann ich kam, war der Tisch bei meinem Eintreffen schon gedeckt, nicht üppig, aber fein: Eine Tischdecke, zwei Gedecke, eine Kerze und es roch nach frischem Kaffee. Schon das allein zeigte mir, wie sehr sie sich darauf freute. Ob sie wohl ahnte, wie leicht sie es mir, und auch den anderen, die Fiene besuchten, damit machte?
In all den Jahren erlebte ich Fiene als eine feine, bescheidene und genügsame Frau. Sie trug keine modische Kleidung, legte aber Wert auf ihr äußeres Erscheinungsbild. Fiene erzählte gerne, was nicht überrascht. Auch wenn sie Besuch bekam, so war sie doch viele Stunden allein.
Sie nutzte meine Besuche, um mir von früher oder von aktuellen Ereignissen zu erzählen. Mir imponierte es, dass sie noch täglich die Tageszeitung las. Dieses Ritual ließ sie nur dann ausfallen, wenn sie krank war. Bei einem meiner Besuche schenkte sie mir ein aus der Tageszeitung ausgeschnittenes Bild. Es zeigte ein Vogelnest mit einer Vogelmutter und ihren drei Küken. „Als ich das Bild sah, musste ich gleich an euch denken. Ihr habt doch jetzt auch drei Kinder,“ sagte Fiene. Ich musste ganz schön schlucken. Um das zu verbergen, schloss ich sie in meine Arme und sagte einfach nur: „Danke!“
Im Laufe der Jahre ließ Fiene nach, nicht nur körperlich, auch geistig. Beim Gehen in ihrer Wohnküche suchte sie Halt. Mal stützte sie sich an der Tischkante ab, mal an der Spüle oder auch an einer der Stuhllehnen. Wenn ich aufstand, um ihr zu helfen, winkte sie ab: „Lass mich mal. Das geht schon.“ Auch das Erzählen fiel ihr schwerer. Sie redete langsamer, bedächtiger. Manchmal wollten ihr die richtigen Worte einfach nicht einfallen. In diesen Momenten wirkte sie auf mich sehr traurig. „Ach Fiene,“ überspielte ich Situationen wie diese, „das geht mir schon manchmal so. Da will ich meinem Mann etwas von einem Bekannten erzählen, und mir fällt partout der Name des Bekannten nicht ein, so, als hätte ich einen Knoten im Kopf.“ Dankbar lächelte Fiene. Doch was sie in diesen Momenten wirklich dachte, behielt sie für sich.
Fienes Lebensmut bröckelte, als auf dem Grundstück vor ihrem Haus ein neues Haus entstand. Vor dem Fenster ihrer Wohnküche türmte sich ein Sandhaufen aus Mutterboden auf. Ihr feines Blumenbeet gab es nicht mehr. Auch Fienes Blick nach draußen war eingeschränkt. Fiene kam damit nicht zurecht. Bei einem meiner Besuche schaute sie mich traurig an, versuchte, mit ihren zitternden Händen ihre Tränen wegzuwischen und sie sagte mit brüchiger Stimme: „Können die nicht warten, bis ich tot bin?“. Ich musste schlucken und brauchte erst mal Zeit, um nach Worten zu suchen. Bedächtig begann ich: „Weißt du, Fiene, vielleicht solltest du den Menschen, die demnächst in das neue Haus einziehen, eine Chance geben. Sie wissen nicht, dass du dich von dem Verhalten deiner Nichte und ihrer Familie so verletzt fühlst. Sie kennen die Vorgeschichte nicht. Ich glaube auch nicht, dass deine Nichte dich bewusst verletzten wollte. Das Grundstück gehört ihr, das weißt du.“ Fiene starrte aus dem Fenster und nickte stumm. „Hat sie nie mit dir über das Vorhaben gesprochen?“, fragte ich. „Doch,“ gab Fiene zu, „aber meine Einwände zählten nicht. Warum können die nicht alles so lassen? Ich bin zu alt und so müde.“
Eine Weile schwiegen wir beide. Dann fuhr sie fort: „Rita möchte mich mit zu ihr nehmen. Das Kloster hat ihr ein Zimmer für mich zur Verfügung gestellt. Rita könnte mich dann täglich sehen, mich versorgen und auch Zeit mit mir verbringen.“ „Wie denkst du über Ritas Vorschlag?“, hakte ich nach. Fiene atmete schwer, bevor sie antwortete: „Rita ist ein sehr, sehr lieber Mensch für mich. Das weiß sie auch. Doch ich werde freiwillig dieses Haus nicht verlassen. Ich bin hier groß geworden, habe hier mein ganzes Leben verbracht. Hier will ich sterben, nur hier!“ Fiene musste schwer nach Luft ringen. Dieses Gespräch kostete ihr viel Kraft.
Unwillkürlich fragte ich mich, ob sich ihre Nichte jemals mit den Gefühlen, mit den Ängsten dieser Frau auseinandergesetzt hatte. Ich habe Fiene kennengelernt, Nähe zu ihr aufgebaut. Die Nichte wohnt weiter weg, kennt Fiene – wie ich von Rita weiß – kaum. Sie hat diese Nähe zu Fiene nicht. Mir steht es nicht zu, diese Frau zu verurteilen, auch wenn meine Sympathie Fiene gilt, nicht der Nichte.
Nach knapp einem Jahr bezogen die Mieter das neue Haus. Auch der Mutterboden vor Fienes Wohnküche verschwand. Zurück blieb eine größere Fläche mit schwarzem Sand. Ein Blumenbeet wurde nicht mehr angelegt. Deshalb brachte ich Fiene manchmal einen kleinen Biedermeierstrauß mit. Den konnte sie sich auf den Tisch stellen und sich daran erfreuen. Doch die Lebensfreude in Fiene kehrte nicht mehr zurück. Sie wurde stiller, lebte in sich zurückgekehrt. So wurden die Besuche für mich anstrengender. Fiene war nicht mehr diejenige, die erzählte. Sie hörte zu, beteiligte sich nur hin und wieder. Immer häufiger wirkte sie so, als sei sie sehr weit weg. Bei einem meiner letzten Besuche fragte ich sie: „Fiene, haben sich deine neuen Nachbarn bei dir schon vorgestellt?“ Sie nickte und nach einer kleinen Atempause erzählte sie mir von ihnen in mehr als nur zwei Sätzen. So erfuhr ich von dem kleinen Sohn der Nachbarn. Die Mutter sei sehr nett und würde ihr viel von dem Kleinen erzählen. Doch Fiene strahlte nicht. Sie wirkte eher müde und abgekämpft.
Bei meinem letzten Besuch öffnete nicht Fiene die Tür, sondern Rita. Ich ahnte nichts Gutes. Rita sah sehr mitgenommen aus. „Magst du reinkommen?“, fragte sie. In Fienes Wohnküche erfuhr ich von Rita, dass Nachbarn sie angerufen hätten. Fiene ginge es wohl nicht gut, jedenfalls ginge das Licht am Abend nicht an und die Rollladen an ihrem Schlafzimmerfenster blieben unten. Das Kloster stellte Rita frei, um alles zu regeln. Zuhause hatte sie Fiene apathisch in ihrem Bett vorgefunden. Sie wollte weder etwas trinken noch etwas essen. Sie wollte auch nicht aufstehen. Da Rita ihr nicht helfen konnte, rief sie den Krankenwagen. Seit zwei Tagen lag Fiene nun im Krankenhaus. Viel Hoffnung machten die Ärzte Rita nicht. Sollte Fiene entlassen werden, könne sie nicht mehr in der elterlichen Wohnung allein leben. Rita tat mir unendlich leid. Ich hätte nicht mit ihr tauschen wollen. Rita kannte Fienes Herzenswunsch und im Augenblick sah es so aus, als könne sie ihr den nicht erfüllen. Da Rita kein Auto fährt, fragte ich sie, wie sie zum Krankenhaus komme. „Am ersten Tag hat mich eine gute Bekannte von uns hingebracht und abends auch wieder abgeholt. Gestern bin ich mit dem Bus gefahren“, gab sie zur Antwort. „Was hast du für heute geplant?“, wollte ich von ihr wissen und sie antwortet mir: „Ich packe jetzt noch ein paar frische Sachen für Fiene ein und dann fahre ich mit dem Bus“. Ich versprach Rita, Fiene morgen zu besuchen. Wenn sie möchte, würden wir sie mitnehmen, so hätte sie schon mal eine Busfahrt gespart. Das ließ sich Rita nicht zweimal sagen. Pünktlich um 09.00 Uhr standen wir am Samstag an der Straße vor dem neugebauten Haus. Rita wartete schon auf uns.
Die Fahrt zum Krankenhaus verlief sehr schweigsam. Jeder hing seinen Gedanken nach. Im Krankenzimmer von Fiene angekommen, ging Rita zuerst auf ihre Schwester zu, streichelte liebevoll ihre Wangen und hielt anschließend für einen Moment Fienes Hand. „Guten Morgen, Fiene! Schau mal, ich habe dir eine treue Freundin mitgebracht. Während ich versuche, mit einem Arzt zu sprechen, wird sie so lange bei dir bleiben. Ist das in Ordnung für dich?“, fragte sie. Für einen Augenblick öffnete Fiene ihre Augen und schaute mich an. Ich war mir sicher, sie hat mich erkannt. Fiene lag allein in dem Zimmer. Als Rita das Zimmer verließ, ging auch mein Mann. Er wollte im Park des Krankenhauses spazieren gehen. So konnten Fiene und ich noch einmal etwas Zeit miteinander verbringen. Ich bin mir sicher, wir ahnten beide, dass es die letzten gemeinsamen Minuten waren. Ich stellte mir einen Stuhl an ihr Bett, legte ihre Hand in meine und legte meine andere Hand darauf. So fühlte sie, dass sie nicht allein war. Sie war so schmal geworden, das Gesicht so fahl. „Dir geht es nicht gut, hm?“, begann ich. Fiene holte tief Luft und Tränen liefen. Ich ließ sie laufen, wischte sie nicht ab. Tränen reinigen, damit tröstete ich mich. Ich verlor das Zeitgefühl, hatte einfach nur Fiene im Blick und achtete auf ihre Atmung. Jeder Atemzug schien ihr schwer zu fallen. Irgendwann kam Rita zurück. „Alles in Ordnung?“, flüsterte sie. Ich nickte. „Kannst du noch ein paar Minuten bleiben?“, fügte sie hinzu und ich nickte abermals. Als sie das Zimmer verließ, wurde mir anders. Nach einigen Minuten legte ich Fienes Hand vorsichtig auf ihre Decke zurück. Fiene reagierte sofort; ihre Hand suchte. „Keine Angst Fiene, ich bin hier und bleibe auch, bis Rita zurück ist. Das ist versprochen.“, versicherte ich ihr. Ich rückte den Stuhl zur Seite, beugte mich über Fienes Gesicht und streichelte ihre Wangen. Sofort öffnete sie ihre Augen und versuchte zu sprechen. Es fiel ihr sichtlich schwer. Langsam flüsterte sie:
„Ich kann dir nichts geben,
ich habe doch nichts.
Ich kann dir nur „Danke“ sagen.“
Ich brauchte Zeit, um mich zu sammeln, setzte mich zu ihr auf die Bettkante und nahm noch einmal ihre Hand in meine. Meine letzten Worte an Fiene sollten ehrlich und zugleich tröstend sein. „Danke Fiene für deine offenen Worte.“ begann ich, „Die werde ich mitnehmen und in mir bewahren. Jetzt ist es für mich an der Zeit, dir Danke zu sagen für all das, was du mir vorgelebt hast: Für dein Strahlen auf dem Gesicht, wenn du mir die Tür geöffnet hast, für deine Gelassenheit, deine Genügsamkeit – du hast dich nie beschwert, hast nie gejammert, es einfach angenommen -. So konnte ich viel von dir lernen. Danke dafür!“
Mit dem Zeigefinger der anderen Hand versuchte Fiene mir zu zeigen: Nein! Deshalb fuhr ich fort: „Ja, Fiene, ich weiß! In den letzten Monaten hat sich das geändert. Die Veränderungen in deiner Umgebung waren zu viel für dich. Fiene, vertrau mir, wenn ich dir sage: Das ist in Ordnung! Mit dem Alter lassen die Kräfte nach, man kann nicht mehr alles verstehen und annehmen. Dann fühlt sich der Mensch hilflos und traurig. Vertrau darauf: Du bist und bleibst ein wunderbarer Mensch! So bleibst du mir in Erinnerung.“
Dann habe ich ihre Hand losgelassen und mich noch ein letztes Mal über ihr Gesicht gebeugt, ihre Wangen gestreichelt. In dem Augenblick hörte ich Rita hereinkommen und war – ehrlich gesagt – sehr dankbar dafür. Ich drehte mich um zu Rita, ging auf sie zu und legte meine Hand auf ihre Schulter. Dann verließ ich das Zimmer.
Draußen atmete ich tief durch, brauchte Zeit, um mich zu sammeln.
Am darauffolgenden Tag rief Rita mich an, um mir mitzuteilen, dass Fiene kurz nach Mittag ganz ruhig eingeschlafen sei.
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