Lukas war ein noch recht junger Engel und erst seit kurzem im Himmel. Er kannte das Leben im Himmel noch nicht so gut. Lukas war neugierig, träumte gerne und spielte Fangen mit den Wolken. Wenn er dem Wind zuhörte, der von der Erde und den Menschen erzählte, konnte es passieren, dass er alles um sich herum vergaß. So kam es immer wieder vor, dass er zu seinen himmlischen Pflichten zu spät kam oder sie ganz vergaß.
Dabei hatte Erzengel Michael, der die Engelschar führte, dem kleinen Engel nur wenige Aufgaben zugeteilt. So sollte Lukas morgens die Himmelsglocken läuten, seine Engelskammer, die er sich mit anderen Engeln teilte, einmal in der Woche aufräumen und Gott für alles Gute danken, dass er erleben durfte. Michael konnte schon verstehen, dass es für Lukas nicht so leicht war, sich in den Himmelsablauf einzufügen. Doch wie auf der Erde konnte auch im Himmel nicht jeder nur das tun, wozu er grad Lust hatte.
So blieb es auch nicht aus, dass sich die anderen Engel beim Erzengel Michael über Lukas beschwerten. Die Engel von Lukas Kammer jammerten, weil sie Lukas Aufgaben übernehmen mussten, wenn er mal wieder vergessen hatte, aufzuräumen. Andere Engel protestierten, weil Lukas des Öfteren vergaß, die Himmelsglocken morgens pünktlich zu läuten. Dann mussten sie seinen Dienst übernehmen und das fanden sie nicht so lustig. Selbst Gott für das Gute zu danken, vergaß er manchmal.
So konnte es nicht weitergehen. Also ließ Michael den kleinen Engel zu sich kommen, um ihn zur Rede zu stellen. Als dann Lukas mit zerzausten Flügeln und strubbeligen Haaren vor ihm stand, konnte er ihm nicht böse sein. Er musste sich vielmehr das Lachen verkneifen. So beließ er es bei einer Ermahnung und Lukas gelobte Besserung und flog erleichtert davon.
Michael sah ihm hinterher und dachte wehmütig an seine eigene Jugendzeit zurück. Selbst er fragte sich manchmal, ob die Einführung in den Himmelsablauf für junge Engel nicht zu früh begann. Doch solange er hier war, war es schon so und er konnte ganz sicher nichts daran ändern.
Für Lukas jedenfalls war es im Himmel nicht immer leicht. Obwohl er sich ernsthaft vornahm, künftig seine Aufgaben pünktlich zu erfüllen, kam ihm immer wieder etwas dazwischen. Selbst die anderen Engel hatten sich mit der Zeit an Lukas gewöhnt und protestierten nur noch selten. Lukas war eben der Engel, der immer zu spät kam und manchmal auch Aufgaben vergaß.
Das hätte noch Sternjahre so weitergehen können, wenn nicht eines Tages eine Himmelskonferenz einberufen worden wäre. Pünktlich um 09.00 Uhr sollten sich alle Engel im Engelssaal einfinden. Ein solches Treffen hatte es bisher noch nie gegeben, zumindest konnte sich kein Engel daran erinnern. Entsprechend aufgeregt waren alle, auch Lukas.
Lukas Neugier war so groß, dass selbst er es rechtzeitig in den Engelssaal geschafft hatte. Erzengel Michael spürte die Aufgeregtheit aller Teilnehmer und eröffnete deshalb die Sitzung ohne lange Vorrede. Er kam sofort auf den Punkt: Gott hatte sich entschieden, sich selbst um die Menschen auf der Erde zu kümmern. Dort war schon seit langer Zeit einiges in Unordnung geraten. Auf der Welt gab es Kriege und nicht die Liebe, sondern der Neid nahmen zu. Die Menschen schauten auf das Geld und erkannten, welche Macht sie damit ausüben konnten.
Deshalb hatte Gott sich zu diesem ungewöhnlichen Schritt entschlossen. Er selbst wollte in Bethlehem auf die Erde kommen und seine Botschaft leibhaftig den Menschen verkünden. Das also war die große Neuigkeit und die Engel sollten ihm dabei helfen. Die Engel waren schon ziemlich aufgeregt. Natürlich würden sie alles tun, was engelsmöglich war. Doch was erwartete Gott von ihnen? Wie konnten sie ihn unterstützen?
Zugegeben: Die Engel waren ziemlich ratlos. Ideen wurden gesammelt und wieder verworfen. Nach vielen Diskussionen zeichnete sich eine Lösung ab: Sie würden zur Erde fliegen und dort zu Gottes Geburt den größten Lobpreis singen, den man sich vorstellen konnte.
Singen und Loben – das konnte ja nicht falsch sein! Bei dieser Vorstellung nickte auch Lukas. Er würde pünktlich sein, er würde so laut singen, wie es seine Stimme hergab. Er würde seinen Teil dazu beitragen, dass Gottes Ankunft auf Erden nicht ungehört geschehen würde. Doch würde Singen Gott bei seinem Vorhaben wirklich unterstützen? Lukas war ein wenig unsicher, doch traute er sich nicht, seine Bedenken zu äußern. Die anderen waren viel erfahrener als er und bis er seine Gedanken geordnet hatte, war die Himmelskonferenz schon zu Ende.
Bis zu dem großen Tag übten die Engel unermüdlich ihren Lobgesang. Kurz vor ihrem Abflug kontrollierten sie noch einmal ihre Flügel, ölten mit einem Honiggetränk ihre Stimmbänder und flogen Richtung Erde, ein wenig später auch Lukas. Er hatte sich fest vorgenommen, für Gott pünktlich zu sein. Der Flug dauerte lange, doch dem kleinen Engel gefiel es, so durch die Luft zu sausen, den Wind zu spüren und den Wolken, die er überholte, ein herzliches „Hallo!“ zuzurufen. Er hätte noch stundenlang so weiterfliegen können, wenn er nicht so neugierig auf die Erde gewesen wäre. Er kannte die Erde noch nicht, auch nicht die Menschen, die dort lebten. Er hatte bisher nur den Wind davon erzählen hören, und jetzt sollte er das alles selbst kennenlernen.
Lukas landete etwas unsanft. Er war irgendwo in Bethlehem, doch wo genau, dass wusste er nicht. Der aufwirbelnde Staub nahm ihm für einen Moment die Sicht. Er hustete heftig, putzte sich den Staub von seinen Armen und seinen Flügeln und sah sich um. Das also war die Erde! Alles war grau in grau, der Boden karg, die Bäume kahl, die Luft kühl. Lukas war enttäuscht. So hatte er sich die Erde nicht vorgestellt.
Wo waren die Menschen und wo würde Gott zur Welt kommen? Er wollte auf jeden Fall zur Geburt Gottes pünktlich sein. Also versteckte er die Flügel unter seinem Umhang und marschierte los. Schon einen Moment später blieb er stehen. Wohin sollte er eigentlich gehen? Im Himmel hatten immer alle Engel so getan, als wüssten sie ganz genau, wo „Gott zur Welt“ kommen würde. Doch Lukas wusste es nicht und er hatte auch nicht daran gedacht, einen der Engel nach dem Weg zu fragen. Und jetzt stand er da! Was sollte er tun?
Sein Blick fiel auf ein kleines Häuschen. Einladend wirkte es nicht. Die Rollläden an den Fernstern hingen schief, ein fehlendes Glasstück in der Haustür war mit Pappe gestopft und das Dach wies einige Löcher auf. Zaghaft klopfte Lukas an der Haustür. Ob da wohl Menschen wohnten und ob sie wussten, wo Gott zur Welt kommen würde? Lukas hörte nichts, also klopfte er noch einmal, diesmal etwas heftiger. „Komm rein, die Tür ist offen.“, hörte Lukas eine brüchige Stimme sagen. Ganz vorsichtig versuchte Lukas, die Tür zu öffnen, doch das war gar nicht so einfach. Die Schrauben an der Türklinke saßen locker und die Tür selbst schrammte über den Boden. In dem kleinen Raum brannte eine Glühbirne und im Raum standen ein Bett, ein etwas klapperig wirkender Stuhl, ein Tisch, ein kleiner Schrank sowie ein kleiner Holzofen, mehr nicht. Es war kalt, denn im Ofen glimmte nur noch ein wenig Asche. Im dämmrigen Licht erkannte Lukas einen älteren Mann. Sein Gesicht wirkte blass, die Wangen eingefallen. „Wer ist da?“, fragte der Mann. Lukas überlegte kurz. Dann sagte er: „Ich bin ein Wanderer.“ Dieses Wort kannte er vom Wind, der ihm davon erzählt hatte. „Ach, dann willst du sicher zur Volkszählung nach Bethlehem!“, antwortete der Mann, „Wenn du magst, dann bleib und wärm dich!“ „Was ist mit dir?“, fragte Lukas behutsam. „Ach! Ich bin krank und komme nicht aus meinem Bett,“ erklärte der Mann. „Und da ist niemand, der sich um dich kümmert?“, wollte Lukas wissen. „Wer sollte sich um mich kümmern?“, sprach der Mann leise. „Meine Frau ist vor vielen Jahren verstorben und unsere Tochter lebt im Ausland. Doch ich will nicht ungerecht sein. Hin und wieder schaut mal einer der Nachbarn vorbei.“ Lukas überlegte einen Moment, bevor er sagte: „Ich leg mal etwas Holz nach und schaue im Schrank, ob wir für dich etwas zu essen finden. Gesagt, getan. Lukas holte etwas Holz von draußen, dass unter einer alten Folie lag. Sofort begann das Holz im Ofen zu knistern. „Danke“, flüsterte der Mann. Dann setzte Lukas einen Topf mit Wasser auf den Herd und schnitt etwas von dem Gemüse, das er im Schrank gefunden hatte, hinein: Zwiebeln, einen halben Kopf Kohl und ein paar Möhren und Kartoffeln. Ein angenehmer Duft verbreitete sich in dem Raum. „Das riecht gut,“ lächelte der Mann.
Lukas nutzte die Zeit, um während des Kochens den Raum aufzuräumen. Er wusch das Geschirr ab und fegte. Als die Suppe fertig war, füllte er etwas davon in eine Schale, setzte sich auf die Bettkante des Mannes und wartete, bis dieser sich im Bett aufrichtete. Dann reichte er ihm einen Löffel und ermunterte ihn, die Suppe zu essen. „Hmhm! Die schmeckt köstlich.“, lächelte er, leerte die Schale und sagte: „Es ist so schön, dass du da bist!“ Dann legte er sich wieder hin und bald fielen ihm die Augen zu. Ruhig schlief er nicht, so blieb Lukas auf der Bettkante sitzen und wachte über ihn. Doch irgendwann fielen auch Lukas die Augen zu.
Als die ersten Sonnenstrahlen Lukas am nächsten Morgen weckten, zuckte er zusammen. „Die Geburt Gottes? Hatte er sie verpasst? War er wieder zu spät?“, durchfuhr es ihn. Auch der alte Mann erwachte langsam. Um ihn nicht zu beunruhigen, lächelte er den alten Mann an und begrüße ihn mit den Worten: „Dann will ich mal etwas Holz auflegen, damit es warm wird und für ein Frühstück sorgen. Er holte Holz von draußen, entfachte das Feuer und stapelte noch so viel Holz vor dem Herd, damit der alte Mann immer etwas nachlegen konnte. Schnell kochte er Wasser, legte Teebeutel hinein und ließ ihn ziehen. Währenddessen röstete er etwas Brot auf dem Herd und strich anschließend etwas Butter darauf. Dann goss er dem Mann eine Tasse Tee ein und den Rest in eine große Kanne und ließ diese auf dem Herdrand stehen. „Kommst du so über den Tag?“ fragte Lukas vorsichtig. „Was ist denn?“, hakte der alte Mann nach. Er spürte Lukas Unruhe. Lukas erklärte: „Weißt du, ich muss weiter, sonst komme ich mal wieder zu spät. Und dabei wollte ich gerade diesmal pünktlich sein“.
„Es tut mir leid“, sagte der alte Mann leise und fügte hinzu,“ Vertrau darauf: Wenn du wegen mir zu spät kommst, und dem, was du alles für mich getan hast, dann wird dir verziehen“. „Ob die anderen Engel tatsächlich auch so denken würden?“ Lukas war sich da nicht so sicher.
„Meinst du, du schaffst es jetzt allein?“, fragte Lukas noch etwas zögernd. „Doch, ich glaub schon“, ermutigte ihn der alte Mann und fuhr fort: „Vielleicht kommt ja heute noch ein Nachbar vorbei.“ Schweren Herzens verabschiedete sich Lukas und nahm sich fest vor, einen der Nachbarn zu benachrichtigen. Er beruhigte sich mit dem Gedanken, dass Gott ihn vielleicht verstehen würde, würde er erfahren, dass da ein alter Mann einfach Unterstützung brauchte. Lukas machte sich auf den Weg und nur einige Minuten später erreichte er einen Bauernhof. Der Bauer stand draußen vor der Deelentür. Lukas ging direkt auf ihn zu und bat ihn, nach dem alten Mann zu schauen. Der hatte sich schon gewundert, weil er den alten Mann in den letzten Tagen nicht gesehen hatte. Er bedankte sich bei Lukas und versprach, den alten Mann zu besuchen.
Voller Zuversicht setzte Lukas jetzt seinen Weg fort. Vielleicht würde er ja doch noch zur Geburt Gottes rechtzeitig ankommen? In der Ferne erkannte er ein Dorf, vielleicht ein Vorort von Bethlehem. Sicher könnten ihm die Menschen dort weiterhelfen. Schon am Horizont zeichneten sich die ersten Häuser ab.
Mitten im Dorf stand ein Wirtshaus. Vom Wind wusste er, dass sich in solchen Wirtshäusern Menschen trafen und vielleicht würde ja einer von diesen Menschen wissen, wo Gott zur Welt kommen würde. So kehrte Lukas fest entschlossen ein, ging zielstrebig auf den Mann hinter einem langgezogenen Holztisch zu und fragte schüchtern: „Ich suche den Ort, an dem Gott zur Welt kommen soll. Können Sie mir sagen, wo das ist?“ Der Wirt brummte: „Du bist jetzt schon der fünfte, der danach fragt. Woher soll ich das denn wissen. Warum informiert ihr euch nicht vorher, wo ihr hinwollt?“ Dann aber blickte er in Lukas blaue Augen, nahm sein zerzaustes Haar und seine Unruhe wahr und sagte etwas freundlicher: „Ich weiß nur von einer Frau, die ein Kind erwartet. Gestern Abend kam ein Mann mit seiner hochschwangeren Frau herein. Sie suchten eine Bleibe. Denen habe ich den Weg zu meinem Stall draußen vor der Stadt gezeigt. Bei mir waren schon gestern alle Zimmer belegt, da viele Leute wegen der Volkszählung hierher-kommen und eine Unterkunft suchen. Vielleicht sind sie es, die du suchst – aber wenn hier ein Gott zur Welt kommen sollte, hätte ich bestimmt davon gehört!“ Lukas staunte nicht schlecht. Ein Stall? Eigentlich war das nicht gerade der Ort, an dem er Gott vermuten würde. Doch Lukas wollte nichts unversucht lassen. „Wo finde ich diesen Stall?“, wollte er deshalb wissen. Der Wirt verließ mit Lukas das Wirtshaus und sagte: „Wenn du in dieser Richtung aus der Stadt gehst, findest du den Stall auf der rechten Seite.“
Und wirklich, als Lukas das Ende der Stadt erreichte, erkannte er auf der rechten Seite einen Stall. Etwas unsicher ging er darauf zu. Ein Ochse lag im Stall und fraß gemütlich etwas Heu. „Hallo“, sagte Lukas. Der Ochse hob seinen Kopf und begrüßte ihn mit den Worten: „Ich bekomme Besuch? Das ist aber schön. Weißt du, gestern war hier so viel los und heute nichts.“ Lukas hakte nach: „Was war denn gestern hier los?“ „Stell dir vor“, erzählte der Ochse in aller Ruhe, „gegen Abend trafen ein Mann und eine Frau hier ein und die Frau hat hier, in diesem Stall, ein Kind zur Welt gebracht! Sie haben auch einen Esel dabeigehabt und es war richtig schön, sich mit ihm ein wenig zu unterhalten.
Sonst erfahr‘ ich ja nicht so viel Neues.“ „Ja, und wo sind sie jetzt?“, wollte Lukas wissen. „Nicht mehr hier, wie du siehst!“, sagte der Ochse traurig. „In der Nacht waren noch seltsame Gestalten in weiß da und haben wunderschön gesungen, später kamen Hirten mit Geschenken für das Kind und heute Morgen besuchten drei Könige die kleine Familie. Danach haben sie den Esel genommen und sind fortgeritten. Ich wollte gerne mit, aber ich war ihnen zu langsam.
Lukas schluckte. „Wieder einmal zu spät gekommen!“, dachte er und Tränen rannen über seine Wangen. Nicht mal bei diesem entscheidenden Ereignis konnte er pünktlich sein. Aber hätte er gestern Abend den alten Mann sich selbst überlassen sollen? Lukas hing noch seinen Gedanken nach, bevor der Ochse neugierig fragte: „Wer bist du eigentlich?“ „Ach!“, sagte Lukas leise, „Ich bin einer, der immer zu spät kommt.“ „Das verstehe ich gut!“, sagte der Ochse mitfühlend, „Ich bin immer zu langsam.“
Beide schwiegen lange. Für Lukas stand fest, in den Himmel wollte er nicht zurück. Auf die Zurechtweisung von Erzengel Michael und auf den Spott der anderen Engel konnte er gut und gerne verzichten. Doch was sollte so ein kleiner Engel wie Lukas auf der Erde schon anfangen? Lukas sah den Ochsen an und fragte: „Weißt du eigentlich, was gestern Abend in diesem Stall passiert ist?“ Der Ochse sah ihn mit großen Augen an und gestand: „Ehrlich gesagt, nein! Aber ich fand es schön.“ Lukas seufzte, sah dann aber ein, dass der Ochse aus seiner Sicht wohl recht hatte. Lukas erklärte ihm: „In deinem Stall ist Gott zur Welt gekommen. Deshalb war all der Trubel hier.“ Davon unbeeindruckt murmelte der Ochse: „Hmhm, und wer ist das, Gott?“ Ratlos zog Lukas die Schultern hoch und fuhr fort: „So genau kann ich dir das auch nicht sagen. Gott wollte als Mensch zur Welt kommen, um allen zu sagen:
„Es lohnt sich zu leben, mach was draus!““
Zugegeben, Lukas war sich nicht sicher, ob Erzengel Michael mit seiner Kurzfassung der göttlichen Botschaft einverstanden gewesen wäre.
Eigentlich wollte Lukas mit seinen Worten dem Ochsen nur deutlich machen, welch wichtiges Ereignis gestern in seinem Stall geschehen war. Lukas blieb nachdenklich und der Satz seiner Kurzfassung hallte in seinen Ohren nach.
Es lohnt sich zu leben – mach was draus!
Der Ochse unterbrach Lukas Gedanken und sagte sehr ernsthaft: „Das ist aber eine schöne Botschaft! Und dieser Gott will diese Botschaft ganz alleine allen Menschen weitersagen?“ Lukas nickte und in diesem Moment wurde ihm klar, auf welches Vorhaben sich dieser Gott da eingelassen hatte. Gott wollte den Menschen Mut zum Leben machen, zu einem Leben, bei dem einer den anderen achtet, Mut zu einem Leben mit all seinen Höhen und Tiefen. Vor diesem Vorhaben verlor das Singen der Engel in der vergangenen Nacht ziemlich an Bedeutung. Sicher konnten die Klänge der Engel die Menschen verzaubern, aber den Menschen Mut zum Leben machen? Nein! Das konnte sich Lukas nicht vorstellen.
Für ihn war klar, er wollte nicht in den Himmel zurück. Außerdem war er neugierig, neugierig auf die Erde und auf die Menschen, von denen ihm der Wind so viel erzählt hatte. Er fragte sich, wie es denn wäre, wenn er hier auf der Erde bliebe und eben auf seine Art und Weise Gott bei seinem Vorhaben helfen würde? Gott konnte das doch unmöglich alles alleine schaffen. Nachdenklich schaute Lukas den Ochsen an. Für ihn wäre es leichter, nicht allein unterwegs zu sein. Vorsichtig fragte er: „Hör mal, hast du Lust, mit mir Gott bei der Verkündigung seiner Botschaft zu helfen?“ Mit großen Augen sah der Ochse Lukas an und fragte: “Wie hast du dir das denn vorgestellt?“ „So ganz genau weiß ich das auch noch nicht“, gab Lukas ehrlich zu und fuhr fort: „Vielleicht können wir zu den Menschen gehen und ihnen erzählen, was wir beide von dieser Botschaft Gottes verstanden haben.“
Lange dachte der Ochse nach, bevor er antwortete: „Doch, das kann ich mir ganz gut vorstellen. Aber nur davon zu erzählen, finde ich ein bisschen zu wenig.“ „Wie meinst du das?“, fragte Lukas, sichtlich überrascht. „Ich habe mal bei einem Bauern gearbeitet, der hat mir jeden Tag erzählt, wie froh er wäre, dass er mich hätte. Aber abends hat er vergessen, mir Wasser zu geben und das wenige Heu, das er mir gab, schmeckte auch nicht gut. Also habe ich ihm mit der Zeit nicht mehr geglaubt. Lukas nickte nachdenklich und fragte: „Du meinst also, wir sollten nicht nur reden und von Gott erzählen, sondern auch entsprechend handeln?“
Diesmal nickte der Ochse und schlug vor: „Vielleicht sogar zuerst was tun – und später darüber sprechen, wenn es dann überhaupt noch notwendig ist. Reden kann ich sowieso nicht so gut.“ „Und du glaubst wirklich, dass Gott zwei wie uns brauchen kann – einen wie mich, der immer zu spät kommt und einen wie dich, der ein bisschen langsam ist?“, hakte Lukas nach. „Warum nicht?“, sagte der Ochse, „ich bin zwar langsam, aber dafür gründlich. Und wenn du heute nicht zu spät im Stall angekommen wärst, hätte mir niemand von der Botschaft Gottes erzählt, so beschäftigt, wie die gestern alle waren. Dann hätte ich nichts von der Botschaft Gottes gehört und wäre hiergeblieben. Dann hätte sich für mich nichts geändert und du und ich, wir hätten Gott bei seiner Aufgabe nicht unterstützt.
Lukas begann, den Ochsen zu verstehen. „Du hast recht“, sagte er, und fuhr fort: „Gott braucht jetzt hier auf der Erde Unterstützung. Der Himmel kann warten“.
„Was ist, gehen wir jetzt los?“, fragte der Ochse. Er hatte Lust auf das Leben bekommen. „Klar“ lachte Lukas „und ich weiß auch schon, wohin. Ich kenne da einen kranken Herrn, der bestimmt unsere Hilfe gebrauchen kann. Der wird Augen machen.“
In einer Ecke des Stalles versteckte Lukas seine Flügel. Auf der Erde brauchte er sie nicht und in den Himmel wollte er so schnell nicht zurück. Und so brachen die beiden auf, ein langsamer Ochse und ein unpünktlicher Engel, um Gott bei seiner großen Aufgabe zu unterstützen.
(Quelle: Schwarz Andrea, 2020, Vom Engel, der immer zu spät kam, Verlag am Eschbach, ISBN 978-3-86917-810-3)
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